Stegodyphus lineatus, Matriphagie, Röhrenspinne

Interessante Beobachtungen aus dem Leben unserer Makromotive oder unserer Naturmotive mit dokumentarischem Charakter
Ajott
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Stegodyphus lineatus, Matriphagie, Röhrenspinne

Beitragvon Ajott » 12. Okt 2013, 19:04

Hallo zusammen,

die Naturfotografie ist bei mir diese Makrosaison leider sehr kurz gekommen. Aber es ist ja nicht so, dass ich nicht trotzdem ein bisschen fotografiert habe. Ich möchte euch deshalb heute eine Art vorstellen, mit der ich mich seit knapp einem Jahr intensiver beschäftige.

Es sind weltweit etwa 90 Röhrenspinnenarten bekannt. In Deutschland gibt es zwei Arten, darunter die hier in letzter Zeit immer mal gezeigte wunderschöne Rote Röhrenspinne (Eresus kollari).

Ich habe mich allerdings mit einer Verwandten, der einzigen in Europa vorkommenden Art der Gattung Stegodyphus beschäftigt: Stegodyphus lineatus. Man findet sie hier nur an den südlichen Rändern des Kontinents. Sie ist aber weiter bis nach Zentralasien verbreitet und bevorzugt dort trockene und warme Standorte.

Weitere Infos findet ihr an den Bildern

liebe Grüße
Aj

PS: Die Bilder sind nicht in der Wildbahn entstanden. Bei einigen musste ich den Blitz einsetzen, bei anderen reichte eine hohe ISO, aber sie rauschen dementsprechend..
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Die Weibchen werden zwischen 1 und 2 Zentimetern groß.
Der Name Stegodyphus lineatus bezieht sich auf die Linienzeichnung, die viele Tiere der Art am Hinterleib zeigen. Allerdings ist die Färbung der Tiere sehr variabel. Von sehr hellen bis fast ganz schwarzen Tieren ist alles vertreten. Die namensgebenden Linien können sehr kontrastreich ausfallen, sich in eine Punktierung auflösen oder fast ganz fehlen.
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Während sich das Farbsprektrum der Weibchen oft eher allen Nuancen von Schwarz bis weiß zeigt, haben Männchen häufig auch auffällig braune Zeichnungselemente. Anders als bei vielen anderen Spinnen sind die männlichen Geschlechtsorgane, die Bulben am Ende der Taster, nicht sehr auffällig ausgeprägt. Ausgewachsene Tiere kann man aber neben der allgemeinen Köfperform auch gut an der auffälligen Spalte zwischen den Cheliceren erkennen, die den Weibchen fehlt.
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Wie alle Röhrenspinnen produzieren Stegodyphus-Spinnen keine Spinnfäden mit Leimtröpfchen. Sie sind cribellate Spinnen, die mit Hilfe eines besonderen Organs, des Cribellums, eine sehr effektive Fangwolle produzieren können. Diese wird mittels des sogenannten Calamistrum, einer Art Haarkamm an den Hinterbeinen, aus dem Cribellum herausgekämmz und auf die Achsfäden aufgetragen. Das ganze System funktioniert letztlich wie eine Art Stolperdraht.

Diese Fäden trocknen im Gegensatz zu den Leimtröpfchen nicht aus, wodurch Stegodyphus lineatus ihre Fangnetze nicht wie andere Spinnen regelmäßig erneuern müssen, sondern diese zu beachtlichen Ausmaßen ausbauen können.

(Dieses Bild entstand mit einer Mikroskopkamera, nicht mit meiner eigenen)
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Anders als alle anderen Röhrenspinnen bauen Stegodyphusarten ihre Netze nicht am Boden sondern erhöht im Gebüsch. Am Ende ihrer Wohnröhre, in der die eher nachtaktiven Tiere den größten Teil des Tages verbringen, fächert sich das Fangnetz trichterförmig auf. Dort erbeuten sie in freier Wildbahn alles, was sich in die Fäden verirrt und sich nicht schnell genug wieder freistrampeln kann. Einen großen Prozentsatz der Nahrung machen Käfer aus. Die Beute wird dann rückwärts sofort in die Röhre gezogen, dort verspeist und später als Tarnung in die Röhre eingearbeitet.
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Zuletzt geändert von Ajott am 12. Okt 2013, 19:37, insgesamt 3-mal geändert.
Wer an allem zweifelt sollte darauf achten, dass gesunde Skepsis nicht bald zur blinden Paranoia wird.
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Beitragvon Ajott » 12. Okt 2013, 19:17

Alle Röhrenspinnen zeigen ein ausgesprochen spannendes Sozialverhalten. In der Gattung Stegodyphus sind sowohl subsoziale als auch 3 der nur 23 bekannten sozialen Spinnen (bei über 40.000 bekannten Spinnenarten!) vertreten, was sie einzigartig und damit zu einer interessanten Gruppe für die Erforschung der Evolution von Sozialität macht.
Stegodyphus lineatus gehört zu den subsozialen Arten. Im Gegensatz zu sozialen Arten findet keine echte Kooperation statt und die Tier leben nur in bestimmten Lebensabschnitten sozial.

Eine dieser Phasen ist die Jungenaufzucht, und das ist auch das Verhalten, welches mich in meiner Arbeit näher interessiert. Daher möchte ich den Lebenszyklus der Art noch ein wenig erläutern.

Infos wieder an den Bildern
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Das adulte Männchen begibt sich auf der Suche nach einen paarungsbereiten Weibchen auf Wanderschaft. Hat er es gefunden, betrillert er es mit seinen langen Vorderbeinen, um sie dazu zu animieren, ihm ihre Unterseite zu präsentieren. Er ist dabei weit weniger vorsichtig als andere Spinnenmännchen. Muss er auch nicht ein, denn Kannibalismus kommt bei der Art quasi nicht vor.
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Die Paarung dauert dann etwa 20-30 Minuten, in denen das Männchen seine Taster abwechselnd in die Geschlechtsöffnung des Weibchens einführt.
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Danach bleibt das Männchen noch mehrere Tage in der Wohnröhre des Weibchens, bewacht sie und paart sich noch 1-2 mal mit ihr. Dabei schlägt er in ihrem Netz auch Beute.
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Die Weibchen legen für ihre Größe erstaunlich winzige Eier, die bei einer Anzahl von 50-140 Stück insgesamt nur 2-3% ihrer Körpermasse ausmachen. Der linsenförmige Kokon (hier als weißes Gespinnst unter den Beinen zu erkennen) wird vom Weibchen gut einen Monat lang bewacht. Tagsüber wird er aktiv in die Sonne gerbacht, nachts tief in der Röhre verborgen.
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Die Jungen schlüpfen im postembryonalen Stadium, welches man im Englischen auch treffend "Eggs with Legs" (Eier mit Beinen) nennt. Dabei hilft die Mutter beim Verlassen des Kokons, indem sie ihn öffnet. Ohne diese Hilfe könnten sie sich nicht selbst befreien. Die Jungen wachsen durch eine ganz besondere Pflege extrem schnell heran. Die Mutter produziert ein Nährsekret, welches sie hochwürgt und an ihre Jungen verfüttert. Etwa 50% ihrer Körpermasse gibt sie auf diese Art innerhalb der nächsten 2 Wochen an ihre Jungen weiter.

Diese Jungen sind schon einige Tage alt und haben schon mindestens 1 Häutungen hinter sich. Unter dem Weibchen ist noch der Kokon zu erkennen.
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Zuletzt geändert von Ajott am 12. Okt 2013, 19:34, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitragvon Ajott » 12. Okt 2013, 19:33

Der letzte Teil
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Innerhalb dieser Zeit häuten sich die Spiderlinge 3 mal.
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Die Mutter baut in dieser Zeit deutlich ab, während die Jungen im Idealfall gut genährt heranwachsen.
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Nach etwa 14 Tagen kommt es zur Matriphagie, das heißt, die Jungen fressen ihre Mutter auf. Am Ende dieses Prozesses haben die Jungen etwa 95% der mütterlichen Masse aufgenommen.. von dem adulten Weibchen bleibt nur eine leer gesaugte Hülle zurück. Wie man hier sieht, können die Größenunterschiede zwischen den einzelnen Jungen am Ende jedoch recht auffällig sein.
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Nach i.d.R. weiteren 2 Häutungen verlassen die Jungen das Nest und leben nun entweder oder leben noch eine Zeit lang in Gruppen von bis zu 20 Tieren zusammen in einem selbst gewebten Gespinnst.

Hier sieht man zwei Tiere, die ihre 5. Häutung bereits hinter sich haben, und schon eine schöne Zeichnung zeigen. Das kleinere Tier hat die 5. Häutung noch vor sich.
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Diese Jungen haben bereit 7 Häutungen hinter sich. Bald werden sie sich separieren und ihre eigenen Wohngespinnste bauen.
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Beitragvon würmchen » 12. Okt 2013, 19:55

Hallo Anja,
sehr sehr interessant!
Danke für Deine Mühe und für Deine tollen Bilder!
Viele Grüße

Conny


Mit Hilfe der Fotografie lerne ich die Schönheiten der Natur zu entdecken
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Beitragvon Michael123 » 12. Okt 2013, 19:59

Hallo Anja
sehr interessante Doku
danke für dein Mühe echt toll
Lg
Michael



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Beitragvon harai » 12. Okt 2013, 20:28

Hallo Anja,

was man nicht alles über Spinnen lernen kann. Toll wie das Entstehen und Vergehen
von Dir dokumentiert ist. Danke für die Mühe und fürs Zeigen.
Liebe Grüße
Rainer
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Beitragvon nurWolfgang » 12. Okt 2013, 22:17

Hallo Anja

Eine 1A Doku die du sehr gut bebildert und beschrieben hast.
Beeindruckend finde ich den langen Zeitraum über du du die Spinnen beobachtest und dokumentiert hast.
Vielen Dank für diene Mühe und danke fürs zeigen.

Gruß

Wolfgang
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Beitragvon Gabriele » 13. Okt 2013, 16:48

Hallo Anja,

das ist eine ganz hervorragende Doku. Super interessant und sehr gut
bebildert. So kann man sich das alles wunderbar vorstellen. Fast als
wäre man live dabei. Vielen Dank fürs zeigen :)

LG Gabriele
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Beitragvon piper » 13. Okt 2013, 17:07

Hallo Anja,

das ist ganz großes Kino und die Infos dazu
wieder unheimlich interessant und sehr gut
recherchiert. Wir haben im Zoo auch ein Netz gefunden,
aber aber leider keine Spinne drin.
Ich bin auf jeden Fall begeistert.
Liebe Grüße Ute

Die Freude am Kleinen ist die schwierigste Freude, denn es gehört ein großes Herz dazu.
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Beitragvon erwin50 » 13. Okt 2013, 17:08

Hallo anja,
diese Doku ist einfach nur toll!
Sehr informativer Text u. ganz außergewöhnliche Bilder! Super!
liebe Grüße
Erwin

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