gefährliche Liebschaften

Interessante Beobachtungen aus dem Leben unserer Makromotive oder unserer Naturmotive mit dokumentarischem Charakter
Ajott
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gefährliche Liebschaften

Beitragvon Ajott » 23. Jul 2012, 23:41

Hallo zusammen,

Spinnen laufen einem ja häufiger in allen Lebensstadien über den Weg, manchmal auch mit Kokons oder Jungen oder Männchen die um Weibchen werben. Die Paarung hingegen bekommt man weniger häufig zu Gesicht. Ich selbst habe am Freitag meine 3. Spinnenpaarung beobachten können und war wieder sehr fasziniert.

Es handelt sich hier vermutlich um die Kugelspinne Enoplognatha ovata. Es gibt allerdings eine Schwesterart, Enoplognatha latimana, die optisch nicht 100%ig von dieser zu unterscheiden ist.
Es gibt verschiedene Farbformen, die früher als eigene Arten betrachtet wurden. Heute weiß man, dass alle Formen einer Art angehören. Man hat aber die alten Bezeichnungen beibehalten. Die Form, die ich beobachtet habe, mit den zwei roten Streifen auf dem Abdomen, nennt man Redimida-Farbform. Es gibt noch Formen mit nur einem breiten roten Streifen oder ganz ohne Rotfärbungen.

Die Paarungsrituale sind bei den meisten Arten sehr komplex ausgefeilt: von Brautgeschenken (zB. Listspinne) über Klopf- oder Zupfsignale (zB Wolfsspinnen oder Kreuzspinnen) bis hin zu regelrechten Balztänzen (Springspinnen) sind zahlreiche Methoden vertreten, die aggressive Angriffe des Weibchens und somit den möglichen vorzeitigen Tod des Männchens vor der Befruchtung verhindern sollen. Und entgegen der landläufigen Meinung kommen die meisten Spinnenmännchen auf diese Weise unbeschadet aus einer Paarungssituation heraus. Es gibt nur wenige Arten, bei denen das Männchen regelmäßig verspeist wird (hierzulande zB. die Wespenspinnen). Die Gefahr ist dennoch bei jeder Art immer latent vorhanden.

Die Paarung habe ich in Ostvorpommern am 20.07.2012 auf einer extensiv genutzen Grünfläche bei bewölktem Abendhimmel gesehen. Aufgenommen mit Canon EOS 600D und Tamron 90.

Weitere Infos direkt bei den Bildern.
Dateianhänge
Belichtungszeit: 1/160
Blende: 2.8
ISO: 250

Hat das Männchen das Gespinst eines Weibchens aufgespürt, beginnt es zunächst in einem typischen Muster am Netz zu zupfen. Auf diese Weise hebt sich das Mänchen von Vibrationen durch eventuelle Beutetiere ab und minimiert somit das Risiko einer Attacke durch das Weibchen.
Enoplognatha ovata Paarung1.jpg (275.08 KiB) 1660 mal betrachtet
Enoplognatha ovata Paarung1.jpg
Belichtungszeit: 1/125
Blende: 5.0
ISO: 400

Danach wagt sich das Männchen in das Reich des Weibchen hinein und nähert sich vorsichtig an, bis es behutsam körperlichen Kontakt zum Weibchen herstellen kann. Sehr sanft berührt es dann mit einem Vorderbein ein Bein des Weibchens. Reagiert es nicht, tastet sich das Männchen langsam weiter, bis es auch den Hinterleib des Weibchens vorsichtig betastet.
Enoplognatha ovata Paarung2.jpg (405.07 KiB) 1661 mal betrachtet
Enoplognatha ovata Paarung2.jpg
Belichtungszeit: 1/160
Blende: 5.0
ISO: 400

Irgendwann wird das Weibchen reagieren indem es sich zum Männchen umdreht und auf ihn zukommt. Geschieht das zu plötzlich, reagiert das Männchen zunächst mit Flucht aus dem Netz und nähert sich dann sehr vorsichtig wieder an, indem es zunächst wieder über die Beine Kontakt aufnimmt.
Enoplognatha ovata Paarung3.jpg (401.04 KiB) 1660 mal betrachtet
Enoplognatha ovata Paarung3.jpg
Belichtungszeit: 1/125
Blende: 5.0
ISO: 400

Sich frontal an das Weibchen anzunähern erfordert vom Männchen viel Mut. Daher achtet es genau auf das Zeichen des Weibchens, dass mit rhytmischen Zuckungen (dabei wird der Körper mehrmals hintereinander in schneller Folge ein wenig angehoben und wieder gesenkt) seine Paarungsbereitschaft signalisiert.
Enoplognatha ovata Paarung4.jpg (306.31 KiB) 1660 mal betrachtet
Enoplognatha ovata Paarung4.jpg
Belichtungszeit: 1/100
Blende: 5.6
ISO: 800

Jetzt handelt das Männchen zügig. Von vorne nähert es sich dem Hinterleib und führt nun abwechselnd seine Taster (diese tragen das Sperma) in die Geschlechtsöffnung des Weibchens ein. Dabei greift ein Schlüssel-Schloss-Prinzip, dass die Hybridisierung verschiedener Arten verhindert. Taster des Männchens und Epigyne des Weibchens sind in der Regel artspezifisch aufeinander abgestimmt. Auch die beiden Schwesterarten lassen sich letztlich am Bau der Geschlechtsorgane sicher auseinanderhalten.
Bei dieser Art dauert die Paarung mit den eingeführten Tastern letztlich nur wenige Minuten. Bei Zitterspinnen habe ich eine Paarung beobachtet, die mindestens 2 Stunden dauerte. Bei Kreuzspinnen dauerte eine Tastereinführung nur wenige Sekunden.
Enoplognatha ovata Paarung5.jpg (388.59 KiB) 1665 mal betrachtet
Enoplognatha ovata Paarung5.jpg
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Beitragvon wolfram schurig » 24. Jul 2012, 08:26

Klasse Doku, Anja!

Da haben wir ja jetzt eine richtige Spinnenfee im Forum...


LGr

Wolfram
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Beitragvon cleo » 24. Jul 2012, 10:17

Hi Anja,

eine ganz großartige Doku zeigst Du hier in toller Bildqualität. Vielen Dank auch für die umfangreichen Infos, die ich geradezu "verschlungen" habe.

Die Makrofotografie hat mich nicht nur von meiner Arachnophobie erfolgreich kuriert - inzwischen werden diese absolut faszinierenden Geschöpfe mehr und mehr zu meinen Lieblingsmodels.
Viell. hast Du "Spinnenfee" ja nen Fachliteraturtipp für mich

Liebe Grüße
Christina
Ajott
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Beitragvon Ajott » 24. Jul 2012, 13:09

Hi Christina,

liest du auch englisch? Die besten wissenschaftlichen Sachen sind halt meist auf englisch. Ein wirklich empfehlenswertes aktuelles Buch (2011) ist "Spider Behaviour: Flexibility and Versatility" von Herberstein. Man erfährt hier sehr viel, was man nicht für möglich gehalten hätte und auch nicht überall zu hören bekommt, zum Beispiel über das Lernverhalten von Spinnen. Wenn es um Bestimmungsliteratur geht, ist der Bellmann aktuell sicherlich das beste was man bekommen kann.
Um eine Basis zu schaffen und sich die Grundlagen anzueignen empfiehlt sich zum Beispiel "Biologie der Spinnen" (Foelix).
Ein Buch, welches ich mir auf jeden Fall mal noch zulegen will ist folgendes: Spinnen, die erfolgreiche Jäger

Soll wirklich gut gemacht sein, wenn man über ein paar kleine Bezeichnungsfehler hinwegsieht.

liebe Grüße
Aj
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Beitragvon Gabriele » 24. Jul 2012, 18:33

Hallo Anja,

eine schöne Doku mit sehr guten Bildern und einem interessanten
Text. Spinnen faszinieren mich auch sehr (mein erstes Makro war
von einer Spinne), schon allein darum danke ich dir für diesen
Thread :) Das sich Spinnen auf diese Art paaren habe ich noch nicht
gewusst. Sehr informativ!

LG Gabriele
gast16
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Beitragvon gast16 » 26. Jul 2012, 18:17

Hallo Anja,
eine sehr informative Doku mit feinen, aufschlussreichen Bildern.
Vielen Dank dafür!
VG Bert
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Beitragvon Benjamin » 27. Jul 2012, 07:52

Hallo Anja,
das habe ich in Natur so noch nicht gesehen.
Eine tolle Doku mit 1a Bildern. :)
Viele Grüße,
Benjamin
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Beitragvon TS63 » 27. Jul 2012, 13:34

Hallo Anja,

für solche Momente muss man auch ein gutes Auge haben. :clapping:

Aufschlussreiche Doku, die weit über die Informationen aus dem Buch von Bellmann hinausgehen.
Gruß
Thomas
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Beitragvon Gabi Buschmann » 5. Aug 2012, 14:41

Hallo, Anja,

das ist eine ganz tolle Doku mit super
Bildern und sehr gelungenen, aufschlussreichen
Texten. Das Ganze liest sich spannender als
ein Krimi!

Vielen Dank dafür!!

Gabi
Liebe Grüße Gabi
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Beitragvon SilkeP. » 5. Aug 2012, 20:32

Starke Doku, Anja!
Liebe Grüße, Silke
(Meine Fotos sind meist Naturdokumente, ab und zu beeinflusste Natur, wenn ich den ein oder anderen Halm auf die Seite biege oder abschneide...)
www.seides-naturfotografie.jimdo.com/


*Die Natur ist kein Studio!*

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